KI in Forschung & Entwicklung: Software wird zum Medizinprodukt
Die Entwicklung neuer Medizinprodukte wird durch KI grundlegend verändert. Insbesondere Software as a Medical Device (SaMD) – also Software mit medizinischem Zweck als eigenständiges Produkt – erlebt einen Boom. Weltweit befinden sich hunderte KI-basierte Diagnostik- und Therapiesoftwarelösungen in Entwicklung und Zulassung. Allein die US-Zulassungsbehörde FDA hat bis Mitte 2024 bereits knapp tausend KI-unterstützte Medizinprodukte autorisiert, davon rund drei Viertel im Bereich Radiologie. Ob bildgebende Verfahren zur Tumorerkennung oder Algorithmen zur Vorhersage von Herzerkrankungen – digitale Gesundheitslösungen auf KI-Basis schießen förmlich aus dem Boden.
Auffällig dabei: Viele Innovationen stammen von Newcomern. Etablierte MedTech-Unternehmen stehen erst am Anfang, dieses Potenzial auszuschöpfen. Doch einige Vorreiter zeigen den Weg. So beschäftigt beispielsweise Brainlab über ein Drittel seines Personals im Bereich Forschung und Entwicklung – ein klares Bekenntnis zur Innovationsführerschaft –, während GE HealthCare und Siemens Healthineers zu den führenden Anbietern von KI- und Software-basierten Medizinprodukten mit zahlreichen FDA-Zulassungen gehören.
KI verkürzt und verbessert den Entwicklungsprozess auf mehreren Ebenen. In der Produktentwicklung können Generative-Design-Algorithmen in Minuten tausende Varianten eines Implantats oder Geräts entwerfen – etwas, wofür Ingenieure früher Monate brauchten. KI assistiert bei der Simulation und Validierung: Anstatt langwierig Prototypen physisch zu testen, lassen sich in virtuellen Umgebungen Szenarien durchspielen, von der Materialbelastung bis zum Verhalten in der konkreten Diagnostik. KI kann dabei die Anzahl von aufwendigen Simulationen zusätzlich reduzieren, indem das Verhalten von komplexen physikalischen Abläufen „erlernt“ wird. Selbst die klinische Prüfung profitiert von KI, etwa durch schnellere Auswertung von Studiendaten und Identifizierung geeigneter Patientengruppen mittels Mustererkennung. Besonders bei SaMD kommt hinzu, dass das Produkt selbst ein lernender Algorithmus ist. Hier schafft KI einen doppelten Nutzen: Einerseits entsteht ein neues digitales Produkt (z. B. eine KI-App zur Diagnostik), andererseits nutzt das Unternehmen KI, um dieses Produkt schneller marktreif zu machen.
Ein oft bremsender Faktor in MedTech ist die Regulierung – Zulassungsprozesse sind komplex und zeitaufwendig. Doch auch hier kann KI unterstützen, etwa durch automatisierte Auswertung regulatorischer Anforderungen und Generierung von Zulassungsdokumenten auf Basis früherer erfolgreicher Einreichungen. KI-gestützte Tools helfen, Fehler in Dokumentationen zu vermeiden und die Compliance bereits während der Entwicklung sicherzustellen. Die Vision: von der Idee bis zur Zulassung in einem Bruchteil der Zeit – ohne Abstriche bei Sicherheit und Wirksamkeit. Erste KI-basierte Medizinprodukte zeigen, dass dies machbar ist. Jetzt gilt es, diese Methoden breit in Forschung und Entwicklung zu verankern.
KI in Produktion & Supply Chain: Intelligente Fertigung und Effizienzsteigerung
In der Produktion und deren operativen Prozessen entfaltet KI ihr Potenzial als Effizienztreiber. MedTech-Unternehmen bewegen sich hier in einem Spannungsfeld: Hoher Qualitätsanspruch und regulatorische Vorgaben treffen auf Kosten- und Zeitdruck. KI kann helfen, diesen Spagat zu meistern. Intelligente Fertigung (Smart Factory) bedeutet, dass Maschinen, Systeme und Produkte permanent Daten austauschen und dazulernen. Einen vielversprechenden Ansatz bietet die kausale KI: Sensoren an Produktionsanlagen erfassen kontinuierlich Daten, und KI-Modelle analysieren diese auf Kausalzusammenhänge, um die zugrunde liegenden Ursachen von Ausfällen aufzudecken. Durch die systematische Beseitigung dieser Ursachen, noch bevor ein Ausfall auftritt, lässt sich die Anlagenverfügbarkeit deutlich erhöhen. Ungeplante Stillstände können so drastisch reduziert werden – ein entscheidender Vorteil, wenn man bedenkt, dass Ausfallzeiten in hochautomatisierten Produktionslinien schnell sechs- oder siebenstellige Beträge kosten.
Ein weiterer Hebel ist die Qualitätskontrolle. KI-gestützte Bildverarbeitung erkennt schon im Produktionsprozess kleinste Fehlstellen oder Abweichungen, weit zuverlässiger als das menschliche Auge. So sinken Ausschussraten, und teure Rückrufe werden verhindert. In der Montage optimieren Algorithmen den Produktionsfluss, indem sie etwa die Reihenfolge der Arbeitsschritte dynamisch anpassen, wenn es irgendwo klemmt – man spricht hierbei von selbstoptimierenden Produktionssystemen. Und generative KI kann Arbeitsanweisungen und Schulungsunterlagen für Mitarbeitende automatisch erstellen, individuell zugeschnitten auf Erfahrungsstand und Sprache des jeweiligen Nutzers.
Auch außerhalb der Fabrikhalle, in Supply Chain und Logistik, spielt KI ihre Stärken aus. Absatzprognosen werden präziser, weil Machine-Learning-Modelle unzählige Einflussfaktoren – von historischen Bestellungen bis Wetterdaten – berücksichtigen. Damit lassen sich Lagerbestände optimieren: Überbestände und Engpässe werden gleichermaßen vermieden. Einige MedTech-Unternehmen berichten, dass KI-basierte Bedarfsprognosen ihre Bestandshaltung um zweistellige Prozentsätze effizienter gemacht haben. Insgesamt führt KI im Bereich Operations zu mehr Transparenz und Steuerbarkeit.
Die Vision für KI in Operations? Man stelle sich einen Fertigungsleiter vor, der die gesamte Wertschöpfung – vom Rohmaterial bis zum fertigen Produkt – auf einem Dashboard sieht, angereichert mit KI-generierten Handlungsempfehlungen. Abweichungen vom Plan werden sofort erkannt, und KI schlägt in Echtzeit Lösungen vor – ähnlich wie ein Navigationssystem, das bei Verkehr eine Ausweichroute anbietet. So wird die Fabrik der Zukunft gesteuert: datenbasiert, vorausschauend und agil. Unternehmen, die hier investieren, können ihre Kosten senken, die Durchlaufzeiten verkürzen und die hohe Produktqualität sichern – ein Wettbewerbsvorteil in einem Markt, der zunehmend Schnelligkeit und Effizienz fordert.
KI in Marketing & Vertrieb: Personalisierung, Pricing und Patientenansprache
Nicht nur in Entwicklung und Produktion, auch in der Marktbearbeitung verändert KI die Spielregeln. Im Commercial-Bereich – also Marketing, Vertrieb, Preisgestaltung und Kundenservice – liefert nicht nur GenAI völlig neue Werkzeuge, um Umsätze zu steigern und Kunden besser zu bedienen. So kann KI die Erstellung personalisierter Inhalte für verschiedene Zielgruppen automatisieren, etwa in Form maßgeschneiderter E-Mail-Kampagnen für Ärzte und Einkäufer.
Ein Schlüsselfeld ist auch die Preisgestaltung. Traditionell basieren Preise für Medizinprodukte auf Kostenkalkulationen und Erfahrung – doch KI ermöglicht dynamisches Pricing, das sich in Echtzeit an Marktbedingungen anpasst. Algorithmen analysieren kontinuierlich Marktdaten, Wettbewerbspreise, Nachfrageprognosen und sogar den wahrgenommenen Wert beim Kunden. So kann ein Unternehmen seinen Preis flexibel optimieren – und zwar in beide Richtungen: Preissenkungen zur Absatzsteigerung oder Aufschläge, wo der Markt es hergibt. Studien zeigen, dass solche KI-unterstützten Pricing-Strategien Umsätze und Margen spürbar heben können.
Im Vertrieb selbst setzen innovative Unternehmen auf Virtual Sales Assistants – virtuelle KI-Assistenten, die Vertriebsteams unterstützen. Diese Systeme durchforsten beispielsweise Datenbanken für Customer-Relationship-Management und identifizieren die vielversprechendsten Leads, inklusive automatisierter Einschätzung, welche Argumente bei welchen Kunden verfangen könnten. In Kundenmeetings kann KI in Echtzeit relevante Informationen einblenden oder Fragen beantworten, sodass sich Vertriebsverantwortliche voll auf das Gespräch konzentrieren können.
Auch das Tender Management, also die Bearbeitung von Ausschreibungen, erfährt durch KI einen gewaltigen Produktivitätsschub. Medizintechnikgeschäfte – insbesondere mit Krankenhäusern – werden oft über Ausschreibungen abgewickelt. KI-Tools können hier die oft seitenlangen Ausschreibungstexte analysieren, Anforderungen herausfiltern und sogar erste Entwürfe für die Angebotsdokumente erstellen. So sinkt der Aufwand signifikant, und die Chance steigt, keine wichtige Ausschreibung zu verpassen. Unternehmen berichten von deutlich höheren Erfolgsquoten, wenn KI bei Ausschreibungen zum Einsatz kommt, da Angebote präziser auf die Bedarfsträger zugeschnitten werden können.
Ein weiteres spannendes Feld ist die Patientenkommunikation und -betreuung. Zwar richten sich MedTech-Firmen klassisch an Ärzte und Einkäufer, doch im Zuge von Patient Empowerment und digitalen Therapiebegleitern wird die direkte Ansprache von Patienten wichtiger. Generative KI kann genutzt werden, um personalisierte Informationsangebote für Patienten zu schaffen – etwa Chatbots, die Fragen zu einem Medizinprodukt verständlich beantworten, oder KI-gestützte Apps, die Patienten nach einer Operation durch die Rehabilitation oder nach einer Diagnose durch die Therapie lotsen. Ein aktuelles Praxisbeispiel ist Roche’s System zur kontinuierlichen Glucosemessung (CGM) Accu-Chek SmartGuide Predict, das mittels Machine-Learning-Algorithmen Blutzuckerwerte bis zu zwei Stunden im Voraus prognostiziert und Patient*innen frühzeitig vor drohenden Hypo- oder Hyperglykämien warnt, um eine proaktive Therapieanpassung zu ermöglichen.
Derartige Services verbessern die Patientenerfahrung und heben zugleich das Differenzierungsmerkmal der eigenen Produkte hervor. Zudem liefern sie wertvolles Feedback: KI analysiert die häufigsten Patientenfragen oder -probleme und meldet diese Erkenntnisse an das Unternehmen zurück, das damit Produkt und Service weiter verbessern kann. Kurz: Im kommerziellen Bereich hilft KI, Umsatzpotenziale zu heben und Kundenbeziehungen zu vertiefen. Unternehmen, die ihre Vertriebs- und Marketingprozesse mit KI anreichern, werden agiler auf Marktveränderungen reagieren und näher am Kunden sein – ein entscheidender Vorteil, wenn Wettbewerber um jeden Budget-Euro im Gesundheitswesen ringen.
Erfolgsfaktoren: Operating Model und Daten-Fundament
So vielfältig die Einsatzmöglichkeiten von KI sind, so klar ist auch: Ohne die richtigen Rahmenbedingungen bleibt der Erfolg aus. Zwei Faktoren entscheiden maßgeblich darüber, ob KI-Projekte in MedTech Unternehmen wirklich durchstarten: ein passendes Betriebsmodell und eine solide Datenbasis.
Ein Betriebsmodell oder Operating Model regelt und verankert die Arbeit mit Künstlicher Intelligenz im Unternehmen. Das bedeutet zum Beispiel klare Verantwortlichkeiten und Governance für KI-Initiativen. Führende Unternehmen richten bereichsübergreifende KI-Steuerkreise oder Exzellenzzentren ein, die Strategien, Anwendungsfälle und Ressourcen steuern. Wichtig ist, KI-Projekte nicht isoliert in der IT-Abteilung anzusiedeln – sie müssen von Geschäfts- und Fachbereichen mitgetragen werden. Es hat sich bewährt, ein KI-Portfolio aufzubauen: also eine Pipeline von Anwendungsfällen, priorisiert nach Wertbeitrag und Umsetzbarkeit. Einige sollten auf schnelle Erfolge (Quick Wins) abzielen, um Momentum aufzubauen, andere auf strategische Durchbrüche. Dabei ist Fokus entscheidend: Lieber wenige, dafür entscheidende Use Cases zuerst skalieren, als sich in zahlreichen Pilot-Projekten zu verzetteln.
Unternehmen wie Medtronic gehen diesen Weg, indem sie gezielt Partnerschaften und Übernahmen nutzen, um KI-Kompetenz in ihren Kerngeschäftsfeldern zu stärken. So hat Medtronic etwa in Kooperation mit Cosmo und Nvidia eine Plattform für KI-gestützte Endoskopie aufgebaut. Gleichzeitig gehört zur Governance auch das Risikomanagement: KI in der Medizintechnik muss zuverlässig, nachvollziehbar und ethisch vertretbar sein. Ein robustes KI-Governance-Modell stellt sicher, dass Fragen der Datensicherheit, des Patientenschutzes und der regulatorischen Compliance von Anfang an berücksichtigt werden. Gerade im Life-Sciences-Sektor ist Vertrauen der Stakeholder unverzichtbar – eine KI, die etwa Diagnoseempfehlungen gibt, muss höchsten Qualitätsansprüchen genügen. Entsprechende Gremien und Prozesse zur Abnahme von KI-Lösungen, ähnlich wie Validierungskomitees in der Produktentwicklung, sind deshalb ein Muss.
Der zweite Erfolgsfaktor ist die Datenbasis. KI ist nur so gut wie die Daten, mit denen sie trainiert wird. Viele MedTech-Unternehmen sitzen zwar auf einem Schatz an Daten (von klinischen Studiendaten bis zu Maschinensensordaten), doch dieser bleibt oft ungehoben: Daten liegen in Silos, sind unvollständig oder nicht zugänglich. Die Lösung sind die sogenannten FAIR-Prinzipien: Daten sollten auffindbar (Findable), zugänglich (Accessible), kompatibel (Interoperable) und wiederverwendbar (Reusable) sein.
In der Praxis bedeutet dies den Aufbau einer modernen Datenarchitektur – etwa in Form von so genannten Data Meshs, die Daten quer über Geschäftsbereiche verfügbar machen. Es bedeutet auch, in Datenqualität und Stammdaten-Management zu investieren, damit KI-Algorithmen mit konsistenten und vertrauenswürdigen Daten arbeiten können. Laut einer aktuellen Studie des Massachusetts Institute of Technology sehen 60 Prozent der Chief Data Officers (CDO) ihr Unternehmen noch nicht ausreichend auf KI vorbereitet, solange sie Themen wie Data Governance und Datensicherheit nicht in den Griff bekommen haben. Diese Erkenntnis spiegelt sich in der Branche wider: Immer mehr Firmen schaffen die Rolle eines Data Steward oder CDO, um die Datenstrategie voranzutreiben. Neben Technik und Prozessen ist auch die Datenkultur wesentlich – die Mitarbeitenden müssen verstehen, dass Daten ein wertvolles Gut sind, das es zu pflegen und zu teilen gilt.
Zusammengefasst: Erst wenn eine robuste Datenbasis vorhanden ist, kann KI ihren vollen Nutzen entfalten. Und erst wenn organisatorisch klar geregelt ist, wie KI-Initiativen identifiziert, umgesetzt und skaliert werden, werden aus Pilotprojekten echte „Game-Changer“. Diese Vorarbeiten mögen aufwendig erscheinen, aber sie sind der Schlüssel, um KI erfolgreich „at Scale“ – also im großen Stil – im Unternehmen zu verankern.
Fazit: KI ist aus MedTech nicht mehr wegzudenken
Die MedTech-Branche steht vor einem neuen Zeitalter. Künstliche Intelligenz – nicht nur GenAI – entwickelt sich vom Hype zur Realität mit echtem Mehrwert für Patienten. Jetzt gilt es, die Chancen entschlossen zu ergreifen. Kapital ist nicht der Engpass, Technologien sind verfügbar – der Erfolgsfaktor liegt im Handeln. Die Unternehmen, die KI entlang ihrer Wertschöpfungskette einsetzen und strategisch skalieren, werden die Gesundheitsversorgung von morgen prägen.