Elektronik ist das Herzstück unserer modernen Welt – sie steckt in unseren Smartphones, steuert Industrieroboter und treibt Innovationen in nahezu jeder Branche voran. Dahinter steht eine Lieferkette, die oftmals sehr komplex ist und gleichzeitig enormes Wachstum erfährt. Asiatische und amerikanische Schwergewichte dominieren den Markt für elektronische Bauteile. Europäische Unternehmen haben insbesondere unter Entwicklungsaspekten eine entscheidende Bedeutung, kämpfen aber oftmals damit, Marktchancen zu realisieren.
Die globale Elektronikindustrie wird auf über 5,7 Billionen Euro beziffert (Stand 2022). 95 Prozent davon werden in nur 53 Ländern erwirtschaftet. Europa trägt mit 17 Prozent zum globalen Markt bei, was etwa 952 Milliarden Euro entspricht. Europäische Electronic Manufacturing Services (EMS) Unternehmen, die Komponenten wie Leiterplatten für Elektronikhersteller fertigen, setzten im Jahr 2023 rund 57 Milliarden Euro um – ein Wachstum von elf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Über 80 Prozent der rund 2.230 überwiegend kleinen und mittelständischen europäischen Unternehmen konnten ihren Umsatz steigern. Bis 2030 wird für den europäischen EMS-Markt ein jährliches Wachstum von 6,7 Prozent (CAGR) erwartet. Dies lässt auch die Nachfrage nach Fachkräften weiter steigen, sodass die Mitarbeiterzahl der Branche im Jahr 2023 um 14.000 auf insgesamt 254.000 gestiegen ist. Diese Wachstumserwartungen gehen jedoch mit steigenden Personal- und Materialkosten einher, weshalb stagnierende und teilweise auch zurückgehende Margen zu erwarten sind.1-4
Der europäische EMS-Markt ist fragmentiert und vom asiatischen Markt bedroht
Der Markt für elektronische Baugruppen ist in Europa im Segment der kleinen und mittelständischen Unternehmen stark fragmentiert. Die Hersteller sind oft auf spezifische Komponenten spezialisiert (z. B. Surface-mount-Technology-Komponenten, die eine besonders effiziente Leiterplattenbestückung ermöglichen). Gleichzeitig erzielen weniger als vier Prozent der EMS-Hersteller mehr als 70 Prozent des Umsatzes. Diese Entwicklung treibt die Marktkonsolidierung weiter voran. Allein im Januar und Februar 2024 kam es zu zwölf Fusionen und Übernahmen. Kleine und mittelständische Unternehmen kämpfen in diesem Umfeld darum, Skaleneffekte zu erzielen, und müssen ihre begrenzten Ressourcen für Forschung und Entwicklung effizient einsetzen. Es bestehen weiterhin beträchtliche Umsatzpotenziale, da EMS-Unternehmen aktuell nur 43 Prozent des europäischen Leiterplatten-Marktes (Printed Circuit Board Assembly – PCBA) abdecken (57 Prozent liegen bei den OEMs).5
Die steigende Abhängigkeit von Nicht-EU-Märkten (trotz EU-Initiativen) stellt für die europäische EMS-Branche ein zunehmendes Risiko dar. Insbesondere bei der Leiterplattenfertigung wird dieser Anteil von 82,5 Prozent im Jahr 2023 auf etwa 89 Prozent im Jahr 2035 steigen, beispielsweise bei der Herstellung von Smartphone-Platinen, Motherboards oder Steuergeräten. Der Handelsverband Association Connecting Electronics Industries (IPC) erwartet, dass der EU-Marktanteil bei kritischen Elektronikkomponenten, Leiterplatten und fortschrittlichen Verpackungen von zuletzt 17 Prozent bis 2035 auf ca. 15 Prozent sinken wird. Vor allem aus Asien wird ein zunehmender Preisdruck durch Überangebot sowie ein erhöhtes Risiko durch Produktkopien oder technische Zwillinge erwartet.6
Zunehmende Flexibilisierung und Geschwindigkeit gefordert
Die kurzen Produktlebenszyklen (z. B. Engine Control Units für Assistenzsysteme im Automobil) und schnelllebigen Marktveränderungen der Branche erfordern immer höhere Flexibilität bei Produktionsvolumen und in der Erfüllung individueller Kundenanforderungen, wie z. B. in der Prototypenentwicklung. Im europäischen Markt gewinnen vor allem Zuverlässigkeit und Präzision als kritische Erfolgsfaktoren für EMS-Hersteller an Bedeutung. Die kontinuierliche Einhaltung und Weiterentwicklung von Qualitätsstandards stellen insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen bei Zertifizierungen zunehmend vor Herausforderungen hinsichtlich Kosten oder Ressourcen. Steigende Material-, Energie- und Arbeitskosten, rückläufige Auftragszahlen und Kapazitätsauslastungen in Teilen der Branche erhöhen den Margendruck. Zusätzlich belasten Ausgaben für Cybersicherheit, Inflation und hohe Zinsen die Finanzlage der Unternehmen.7,8
Drei Chancen für europäische EMS-Unternehmen
Um sich trotz all dieser Hürden langfristig erfolgreich zu positionieren und bedeutende Wettbewerbsvorteile für sich und ihre Kunden zu sichern, sollten europäische EMS-Unternehmen gezielt ihre Stärken ausspielen und drei Kernthemen in den Fokus nehmen: Kundenorientierung, Technologien und Resilienz.
E2E-Auftragsabwicklung steigert Kundenorientierung und operative Effizienz
Die kundenorientierte Zusammenarbeit ist ein zentraler Erfolgsfaktor für europäische EMS-Unternehmen im kleinen und mittelständischen Segment. Die konsequente Fokussierung auf den Kunden ermöglicht es, individuelle Anforderungen besser zu verstehen und maßgeschneiderte Lösungen anzubieten. Unternehmen, die ihre Strukturen und Prozesse auf Flexibilität ausrichten, sind in der Lage, schnelle Produktionszyklen mit hoher Qualität zu kombinieren. Für EMS äußert sich dies beispielsweise in der Entwicklung, Erprobung und Auslieferung von Prototypen innerhalb weniger Tage. Um diese Vorteile vollständig zu nutzen und dauerhaft zu sichern, ist die Implementierung eines ganzheitlich am Kunden ausgerichteten und durchgängig organisierten Order-to-Delivery-Prozesses unerlässlich (End-to-End). Verlässliche Lieferperformance, hohe Flexibilität und schnelle Reaktionsfähigkeit lassen sich so mit stabilen und profitablen operativen Abläufen vereinbaren. Die Effektivität dieses Prozesses hängt von drei Schlüsselfaktoren ab: einem klar definierten durchgängigen Prozess vom Vertrieb bis zur Auslieferung, angepassten und durchgängigen operativen Tools sowie einem integrierten Zusammenarbeitsmodell über alle Abteilungen hinweg. Ein auf diese Weise exzellent und durchgängig ausgelegter Auftragsabwicklungsprozess kann für die Unternehmen signifikante Kostenvorteile bringen. Erfahrungen zeigen bis zu 25 Prozent geringere Durchlaufzeiten, bis zu fünf Prozent gesunkene Material- und Transportkosten sowie Produktivitätssteigerungen und eine Verbesserung der Wiederbeschaffungszeiten von über 15 Prozent. Für EMS-Unternehmen, die sich in einem Spannungsfeld zwischen Komponentenlieferant und Systemanbieter befinden, bildet dieser Prozess die Grundlage für nachhaltige Profitabilität ohne Kompromisse bei der Kundenzufriedenheit.
Digitale Vorreiter sind erfolgreicher in der Implementierung neuer Technologien
Europäische EMS-Anbieter investieren intensiv in Automatisierung und Digitalisierung, um effizienter zu arbeiten, Produktionskosten zu senken und die Qualität zu verbessern. Um die Potenziale der Automatisierung nachhaltig zu nutzen, ist ein fundierter, strategischer Ansatz nötig. Dabei gilt es, drei „Denkfehler“ zu vermeiden:
- Ineffiziente Prozesse zu automatisieren, die dafür im Grunde nicht geeignet sind.
- Automatisierung auf der „grünen Wiese“ mit teuren Lösungen zu realisieren, die lediglich menschliche Bewegungen nachahmen.
- Automatisierung ohne ausreichende Kapazitäten und fachliches Wissen umsetzen zu wollen.
Um diese Probleme zu vermeiden und die Vorteile der Automatisierung ausschöpfen zu können, ist zunächst eine Analyse und Überarbeitung der Arbeitsabläufe notwendig. Nur wenn klar ist, welche Prozesse unter den Aspekten der Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit automatisierbar sind, lassen sich exponentielle Steigerungen von Produktivität und Gesamtleistung realisieren. Erfolgreiche Automatisierungsprojekte zeigen bis zu 30 Prozent Produktivitätssteigerung, bis zu 100 Prozent FTE-Ersparnis in speziellen Arbeitsgängen sowie signifikante Qualitätsverbesserungen und Prozessstabilität. Solche Verbesserungen heben die Fertigungsprozesse auf ein neues Niveau. Für EMS-Unternehmen sind die Anforderungen an die Automatisierung besonders hoch. Automatisierungslösungen, z.B. für die Bestückung von Leiterplatten oder auch automatisierte Testsysteme müssen extrem genau arbeiten, um die teilweise winzigen Komponenten bei enorm hohen Stückzahlen korrekt zu verarbeiten. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit einer sorgfältigen Planung bei der Umsetzung von Automatisierungsvorhaben.
Europäische EMS-Unternehmen punkten mit ihrer Forschung und Entwicklung (F&E), durch die kontinuierlich neue Produkte und Lösungen entstehen. Sowohl interne F&E-Teams als auch die Zusammenarbeit mit externen Partnern treiben diese Entwicklungen voran. Für die zukünftige Ausrichtung und Weiterentwicklung ist besonders der Einsatz neuer Halbleitermaterialien wie Galliumnitrid und Siliziumkarbid hervorzuheben. Diese spielen speziell für die E-Mobilität in Europa eine wichtige Rolle, erfordern jedoch auch eine Anpassung der Fertigungsprozesse. Weitere Effizienzgewinne versprechen zukunftsweisende Innovationen wie organische Elektronikkomponenten. Mit einem starken F&E-Fokus und der engen Zusammenarbeit mit europäischen Universitäten können europäische EMS-Unternehmen diese Technologien schnell einführen und stabilisieren.
Resiliente Lieferketten erhöhen Liefertreue und Preisstabilität
Die Transparenz und Stabilisierung der Lieferketten, insbesondere für Elektronikkomponenten, haben gerade durch die einschneidenden Ereignisse der letzten Jahre erheblich an Bedeutung gewonnen. In Zeiten von geopolitischen Spannungen und Unsicherheiten sind diversifizierte und lokale Lieferketten entscheidend, um die Lieferfähigkeit auch in Krisenzeiten sicherzustellen. Regionale Produktion in der Nähe des Absatzmarktes gewinnt zudem an Bedeutung und ermöglicht gleichzeitig eine schnellere Reaktion auf Kundenbedürfnisse. Dabei muss jedoch immer auch das Spannungsfeld zwischen verringerter Abhängigkeit von globalen Routen und Kostenkontrolle aktiv gesteuert werden. Unternehmen, die dieses Spannungsfeld erfolgreich ausbalancieren, können ihren „Standortvorteil“ als überzeugendes Verkaufsargument auf dem europäischen Markt nutzen.
Globale Footprint-Strategie sichert Profitabilität
Der asiatische Markt spielt weiterhin eine ebenso zentrale Rolle bei der Ausrichtung des Produktionsnetzwerks und der Lieferketten. Er bietet großes Absatzpotenzial, ist jedoch auch von wachsender, preisfokussierter Konkurrenz geprägt. Mit dem regelmäßigen Hinterfragen der eigenen Markt- und Footprint-Strategie und einer darauf basierenden Anpassung des Produktionsnetzwerks sind Elektronikunternehmen in der Lage, auch in einem zunehmend volatileren Geschäftsumfeld strukturiert und profitabel zu agieren. Kapazitätsauslastung optimieren, Kapazitätstransparenz in internen und externen Lieferketten verbessern, Skaleneffekte nutzen und Lieferketten stabilisieren – diese Herausforderungen muss eine Footprint-Strategie bewältigen. Sie trägt zur Abfederung des Kostendrucks bei gleichzeitiger Steigerung der Flexibilität für den Kunden bei. So zeigen Beispiele effizient ausgerichteter Produktionsnetzwerke eine Profitabilitätserhöhung von bis zu 5 Prozent, eine Reduktion des Personalaufwands um bis zu 8 Prozent sowie eine Verringerung des Working Capitals um bis zu 15 Prozent. Den Aspekt der strategischen Platzierung von Standorten mit technologischer Expertise und dedizierten F&E-Zentren sollten Elektronikunternehmen besonders beachten. So sichern sie den Zugang zu hochqualifiziertem Personal und ermöglichen gleichzeitig die kosteneffiziente Herstellung komplexer Komponenten.
Fazit
Insgesamt stehen europäische EMS-Anbieter aktuell vor großen Herausforderungen, insbesondere durch ein extrem volatiles Marktumfeld mit einer stark wachsenden Konkurrenz aus Asien. Um sich zukunftssicher aufzustellen, die Produktionsfähigkeiten zu stärken und die Nähe zu ihren Kunden zu maximieren, sollten Unternehmen verschiedene strategische Maßnahmen ergreifen. Ein durchgängiger Order-to-Delivery-Prozess sowie eine hochautomatisierte und flexible Fertigung, die neue Technologien mit einem „First Mover“-Ansatz adaptiert, sind das Ziel. Zudem ist ein ausgewogener Produktions-Footprint mit resilienter Gestaltung der Lieferketten und starken lokalen Partnern entscheidend. Diese Hebel können der europäischen Elektronikindustrie helfen, die großen Umwälzungen in Richtung E-Mobilität, künstlicher Intelligenz sowie Energiewende erfolgreich zu bestreiten.
Appendix
- (1)
Global Market Electro and Digital Industry | Report | 2023 |
https://www.zvei.org/en/press-media/publications/global-market-electro-and-digital-industry-outlook-until-2024 - (2)
European EMS Market Grew to a Record Level in 2023 | Article | 2024 |
https://www.ipc.org/news-release/european-ems-market-grew-record-level-2023-may-experience-challenges-2024 - (3)
European Electronic Manufacturing Services Market | Report | 2024 |
https://www.kbvresearch.com/electronic-manufacturing-services-market/ - (4)
In4ma | Weiss Engineering | 2024 | https://in4ma.de/
- (5)
European EMS Market Grew to a Record Level in 2023 | Article | 2024 |
https://www.ipc.org/news-release/european-ems-market-grew-record-level-2023-may-experience-challenges-2024 - (6)
IPC Securing Europe’s Electronics Ecosystem Report | Article | 2024 |
https://www.ipc.org/news-release/sharp-decline-european-electronics-manufacturing-jeopardizes-strategic-eu-priorities - (7)
The Current Sentiment of the Global Electronics Manufacturing Supply Chain | Presentation | 2024 | https://emails.ipc.org/links/IPC-CurrentSentiment-GlobalEMS-Chain0224.pdf
- (8)
Industry reports weaker demand, stronger cost pressures | Article | 2024 | https://emails.ipc.org/links/0724-IPC-Current-Sentiment-GlobalEMS-Chain.pdf
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