Europas industrielle Basis, lange geprägt von Präzision, Prozessdisziplin und technologischer Marktführerschaft, steht vor einer strategischen Zäsur. Eine neue Generation globaler Herausforderer – insbesondere aus China – hat nicht nur das Spielfeld betreten, sondern auch das Tempo des Wettbewerbs neu definiert. Ihr stärkster Vorteil liegt nicht allein in niedrigeren Kosten, sondern in der Geschwindigkeit, mit der sie neue Produkte entwickeln, testen und auf den Markt bringen. In den letzten fünf Jahren haben chinesische Maschinenbauunternehmen ihren Umsatz verdreifacht und ihre Exporte nach Europa um über 70 Prozent gesteigert. Noch bemerkenswerter: Ihre Produkte erreichen den Markt 50 Prozent schneller – und zu 30 Prozent geringeren Kosten – als viele europäische Wettbewerber (basierend auf Analysen von Porsche Consulting).
Dieser Wandel ist nicht das Ergebnis schrittweiser Effizienzsteigerungen, sondern Ausdruck einer grundlegenden Neugestaltung der Organisation von Forschung und Entwicklung (F&E). Modulare Plattformen, schlanke Governance und digitale Entwicklungspraktiken ermöglichen eine Iterationsgeschwindigkeit, mit der traditionelle Modelle – geprägt von umfassender Validierung und vielschichtiger Abstimmung – kaum mithalten können. In heutigen, stark verkürzten Produktzyklen entscheidet die Fähigkeit, schnell von der Idee zur Markteinführung zu gelangen, darüber, wer den Standard setzt – und wer ihm folgt.
Das Top-Management erkennt die Dringlichkeit – doch Transformationen verlaufen zu langsam
Diese Entwicklung bleibt auch in den Führungsetagen europäischer Unternehmen nicht unbeachtet. Branchenübergreifende Umfragen zeigen, dass Entwicklungsgeschwindigkeit und -kosten inzwischen zentrale Themen im Vorstand sind. Während 2022 nur 57 Prozent die Senkung der F&E-Kosten als geschäftskritisch einstuften, waren es 2024 bereits 79 Prozent (basierend auf Analysen von Porsche Consulting). Ein ähnlicher Anteil sieht die Beschleunigung der Markteinführung als dringliche Priorität – mit stark wachsender Bedeutung in den letzten Jahren.
Doch trotz dieser strategischen Klarheit zeigt die operative Realität vieler Unternehmen ein anderes Bild. Entwicklungsprojekte werden häufig durch Entscheidungsengpässe, unklare Zielsetzungen und mangelnde Standardisierung ausgebremst. Markt- und Kundenfeedback wird zu spät berücksichtigt, um noch wirksam zu sein. Softwarefähigkeiten sind unterentwickelt oder isoliert, und globale Entwicklungsstrukturen spiegeln eher historisches Wachstum als eine strategische Ausrichtung wider.
Es entsteht eine kritische Diskrepanz: Die Unternehmensführung fordert Agilität, doch die Entwicklungssysteme sind weiterhin auf Stabilität optimiert. Im Ergebnis stehen Reibungsverluste. F&E-Teams arbeiten unter veralteten Annahmen zu Risiko, Komplexität und Kontrolle – während Wettbewerber schneller agieren, früher testen und mit jedem Zyklus mehr lernen.
Was bremst F&E wirklich aus?
Um Fahrt aufzunehmen, müssen Organisationen zunächst die systemischen Hindernisse in ihren aktuellen Betriebsmodellen erkennen. Ein zentraler Hemmschuh ist die komplexe Governance. In vielen Unternehmen erfordern wichtige Produktentscheidungen die Zustimmung mehrerer Gremien – was Entscheidungen verzögert und Verantwortlichkeiten verwässert. Eng damit verbunden ist das Fehlen einer plattformbasierten Entwicklung. Ohne standardisierte Architekturen und wiederverwendbare Komponenten beginnt jede Produktgeneration nahezu bei null – mit entsprechendem Zeit- und Kostenaufwand.
Ein weiterer limitierender Faktor ist die unzureichende Nutzung digitaler Werkzeuge. Trotz breiter Verfügbarkeit von Simulationen, virtuellen Prototypen und digitalen Validierungstechnologien setzen viele Entwicklungsteams weiterhin auf sequenzielle, Hardware-lastige Prozesse. Parallel dazu ist die globale F&E-Kapazität oft in Hochkostenregionen konzentriert – und verpasst Chancen für verteilte Entwicklungsmodelle, die sowohl Kosten senken als auch Zykluszeiten verkürzen könnten.
Nicht zuletzt spielt die menschliche Dimension eine entscheidende Rolle. Kulturelle Normen, die Vorsicht über Geschwindigkeit und Prozesskonformität über Ergebnisorientierung stellen, sind tief verwurzelt. Empowerment wird oft versprochen, aber strukturell nicht unterstützt. Diese kulturellen Dynamiken – schwer messbar, aber direkt wirksam – beeinflussen die Entwicklungsgeschwindigkeit maßgeblich.
Was wirklich funktioniert: Vier Dimensionen der Transformation
Erfolgreiche Organisationen investieren nicht nur in Tools – sie überdenken, wie Strategie, Prozesse, Struktur und Kultur zusammenspielen, um die Geschwindigkeit zu erhöhen.
Die erste Dimension ist die Produktstrategie. Unternehmen, die auf Geschwindigkeit setzen, verabschieden sich von maßgeschneiderter Entwicklung und setzen auf modulare, plattformbasierte Ansätze. Statt jedes Produkt von Grund auf neu zu entwickeln, bauen sie auf wiederverwendbaren Elementen auf und treffen klare Entscheidungen darüber, welche Fähigkeiten intern aufgebaut, welche ausgelagert und an welcher Stelle Partnerschaften eingegangen werden. Innovation wird fokussiert und zielgerichtet – im Einklang mit Produktlebenszyklen und Kundenwahrnehmung, nicht allein getrieben von technischer Ambition.
Prozesse und Methoden stellen die zweite Dimension dar. Eine beschleunigte Entwicklung braucht Struktur – nicht mehr Schritte, sondern mehr Klarheit. Organisationen, die feste Entwicklungszeitlinien je Produkttyp definieren, Anforderungen frühzeitig festlegen und kurze Feedbackzyklen integrieren, schaffen berechenbare Abläufe, ohne die Kreativität zu hemmen. Simulationen und virtuelle Validierung reduzieren die Abhängigkeit von physischen Prototypen und ermöglichen frühere Entscheidungen. Zentral ist eine Steuerung über klare Phasen-Gates, die eine frühzeitige Beendigung von Projekten mit geringem Wert ermöglichen.
Der dritte Hebel ist die Organisationselbst. Unternehmen mit echtem Fokus auf Time-to-Market investieren in schlanke Governance mit weniger Schnittstellen und schnellerer Eskalation. Sie etablieren klare Rollen – insbesondere in interdisziplinären Bereichen wie System- und Softwareentwicklung – und sorgen für konsistente Ressourcen und End-to-End-Verantwortung. Diese Klarheit ermöglicht schnellere Übergaben, reduziert Koordinationsaufwand und stärkt die Eigenverantwortung.
Keine der genannten Maßnahmen funktioniert ohne die vierte Dimension: Die Menschen und deren Kultur. Geschwindigkeit ist nicht nur eine Frage der Prozesse – sondern der Haltung. Hochleistungsorganisationen fördern unternehmerisches Denken, erlauben kontrollierte Risiken und belohnen Initiative statt Konformität. Sie investieren in Software- und Datenkompetenz und schaffen Arbeitsmodelle, die globale Zusammenarbeit in Echtzeit ermöglichen. Geschwindigkeit wird nicht als Bedrohung für Qualität gesehen, sondern als Wert, der geschützt und gefördert wird.