Mehr Passagiere durch Digitalisierung

Wie der Schienenverkehr attraktiver und zuverlässiger wird
Marc Zacherl | Gerald Ott | Simon Braun
Apr. 2025 | Impuls | Deutsch | 12 Min.
Leitfragen
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Steigerung der Passagierzahlen im Schienenverkehr: Wie kann Digitalisierung dabei helfen?
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Welchen Beitrag leistet Digitalisierung zu notwendigen Qualitäts- und Effizienzverbesserungen?
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Wie lässt sich die Digitalisierung im Schienenverkehr beschleunigen?

Der Schienenverkehr steht vor der Aufgabe, mehr Menschen effizient und umweltfreundlich zu transportieren. Der weltweite Markt für Bahntechnik (Fahrzeuge, Service, Infrastruktur, Leit- & Sicherheitstechnik) umfasste 2023 rund 202 Milliarden Euro wird bis 2029 voraussichtlich 241 Milliarden Euro erreichen.1 In Europa erreichte die Nutzung der Bahn nach pandemiebedingten Einbrüchen 2023 einen Rekordwert von 429 Milliarden Personenkilometern.2 Bis 2028 ist ein jährliches Wachstum von vier bis sechs Prozent prognostiziert. Mit dem sogenannten „Green Deal“ der EU-Kommission ist geplant, den europäischen Hochgeschwindigkeitsverkehr bis 2030 zu verdoppeln und bis 2050 zu verdreifachen.

Dieses Wachstum sowie klima- und verkehrspolitische Ziele erhöhen den Handlungsdruck. Die Digitalisierung der Schiene ist daher unabdingbar – sie ist erforderlich aufgrund fragmentierter Insellösungen, veralteter Technik, demographischen Wandels und zur Erreichung von Wachstums- und Kapazitätszielen. Digitale Innovationen versprechen, die Attraktivität und Leistungsfähigkeit des Bahnverkehrs zu steigern. Gleichzeitig haben Fahrgäste heute hohe Erwartungen an digitale Services rund um die Buchung und Reise. Die Digitalisierung im Schienenverkehr ist somit kein Selbstzweck, sondern die Antwort auf konkrete Anforderungen der heutigen Zeit.

241 Milliarden Euro Zug fährt über Brücke
Der weltweite Markt für Bahntechnik wächst bis 2029 auf mehr als 240 Milliarden Euro.
241 Milliarden Euro Zug fährt über Brücke
Der weltweite Markt für Bahntechnik wächst bis 2029 auf mehr als 240 Milliarden Euro.

Asien als Vorreiter, Europa mit Aufholbedarf

Trotz aller Vorteile durch Digitalisierung verläuft die Umsetzung oft langsam – große Teile des europäischen Bahnnetzes arbeiten noch mit konventioneller Technik. Hemmnisse sind unter anderem die hohen Investitionskosten und langen Erneuerungszyklen. Ein Beispiel hierfür: das europaweit einheitliche Zugsicherungssystem European Train Control System (ETCS). Im Jahr 2020 waren erst 14 Prozent des EU-Schienennetzes mit ETCS ausgerüstet; beim aktuellen Tempo werden es bis 2030 nur rund 25 Prozent sein.3 

Regional gibt es beeindruckende Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung, mit Asien als Vorreiter. Insbesondere China und Japan investieren massiv in die Digitalisierung des Schienenverkehrs. Sie führen moderne Hochgeschwindigkeitszüge mit fortschrittlichen digitalen Steuerungssystemen ein und profitieren gleichzeitig vom historischen Vorteil einer geringeren Komplexität des Schienennetzes. Die China Railway Corporation nutzt Big Data und Künstliche Intelligenz, um den Betrieb weiter zu optimieren. Dies führte zu einem Rückgang kleinerer Störungen, beispielsweise in der Funktionsfähigkeit von Weichen, und zur Reduzierung von Wartezeiten rund um große Bahnhöfe.4 Japan, bekannt für seine Shinkansen-Hochgeschwindigkeitszüge, setzt ebenfalls auf moderne Signal- und Steuerungstechnologien – neben anderen Einflussfaktoren ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die weltbekannte Pünktlichkeit japanischer Züge.

In Europa sind Länder wie die Schweiz und Frankreich Vorreiter der Digitalisierung der Schiene. Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) verfolgen mit „SmartRail 4.0“ eine umfassende Digitalisierung und Automatisierung des Bahnbetriebs, um Effizienz und Sicherheit zu steigern. Das Projekt optimiert Kapazitätsplanung, Anlagenüberwachung und Fahrzeugsteuerung sowie Reaktionen auf Betriebsstörungen.5 In Frankreich testet die Bahngesellschaft SNCF im Rahmen des Projekts „Train Autonome“ autonome Züge und digitale Stellwerke.6 Skandinavien zeigt ebenfalls Fortschritte. Norwegen plant, bis 2034 sein gesamtes Schienennetz mit dem European Train Control System (ETCS) auszurüsten. Die Deutsche Bahn verfolgt mit dem Programm „Digitale Schiene Deutschland“ eine Initiative, um die Kapazität und Effizienz des Schienennetzes zu steigern.7 In Hamburg wird das erste digitale Schienensystem Deutschlands mit hochautomatisiertem Betrieb umgesetzt. Dieses System ermöglicht eine hohe Pünktlichkeit, maximale Streckenkapazität und bis zu 20 Prozent weniger Energieverbrauch.8; 9 

 

Bequemer reisen: Digitalisierung der Kundenschnittstelle

Ein wichtiger Hebel, um die Fahrgastzahlen im Schienenverkehr zu erhöhen, liegt im Kundenerlebnis. Das beginnt bei der Reiseplanung und Buchung. Passagiere wünschen sich Komfort und Effizienz. Die Digitalisierung der Kundenschnittstelle verbessert genau das. Sie revolutioniert das Fahrgasterlebnis durch proaktive Identifikation der Kundenbedürfnisse: Fahrgäste profitieren von personalisierten Reiseoptionen, die individuelle Präferenzen wie die schnellste, bequemste oder günstigste Verbindung berücksichtigen. Überregionale Apps ermöglichen die kombinierte Buchung unterschiedlicher Verkehrsanbieter und machen integrierte Mobilität zur Realität. Hier gibt es weltweit gute Ansätze, allerdings sind die Lösungen zumeist regional begrenzt und nicht miteinander vernetzt. Überregionale länder- und verkehrsträgerübergreifende Lösungen sind notwendig. Beispiele für solche digitalen Plattformen sind Moovit aus Israel, die weltweit in über 3.400 Städten verfügbar ist, oder Citymapper aus Großbritannien, die Angebote für den Öffentlichen Personennahverkehr, Bahn, Fahrrad und Taxi in 31 europäischen Ländern anbietet.10; 11

In Deutschland erhalten externe Mobilitätsplattformen wie Trainline oder Omio seit 2024 direkten Zugang zu den Live-Daten der Deutschen Bahn. Damit lassen sich verschiedene Verkehrsmittel kombinieren, die beste Route anzeigen und die Verwaltung sowie der Kauf von Tickets vereinfachen. Sie bieten Echtzeitinformationen, übernehmen Buchungen und liefern personalisierte Reiseempfehlungen. Mobilitätsdaten ermöglichen es, Reisepläne situativ anzupassen. Zugverbindungen, Verspätungen und Störungen werden in Echtzeit bereitgestellt. Hier bedarf es integrierter, grenzüberschreitender Lösungen. Bahnbetreiber verfolgen dabei eine Omnichannel-Strategie: Einerseits werden digitale Kanäle ausgebaut, andererseits achtet man darauf, weniger technikaffine Fahrgäste nicht abzuhängen, und bietet weiterhin persönliche Beratung an.

Neue Technologien wie künstliche Intelligenz und digitale Zwillinge sind Basis zur weiteren Verbesserung der Kundenerfahrung. Spezifische Bedürfnisse unterschiedlicher Kundengruppen, wie so genannte Silver-Ager ab 50 Jahren oder Fahrgäste mit eingeschränkter Mobilität, werden durch digitale Plattformen berücksichtigt, die Informationen zu barrierefreien Reiseoptionen bereitstellen und die Buchung von Unterstützungsdiensten im Voraus ermöglichen. Die Analyse von Nutzerdaten ermöglicht personalisierte Werbung und spezielle Angebote, die direkt an die Fahrgäste gesendet werden – beispielsweise Rabatte für häufig genutzte Strecken oder Empfehlungen für touristische Attraktionen.12 

Intelligente Steuerungssysteme nutzen Passagierflussdaten, um Kapazitäten optimal zu verteilen und Überfüllungen zu vermeiden. Beispielsweise kann über flexibles Pricing eine Nachfragesteuerung erfolgen, um Kapazitätsspitzen zu minimieren. Auf Basis von Prognosedaten können Ressourcen frühzeitig an Sondersituationen angepasst werden. Blockchain-Technologie erhöht die Sicherheit und Transparenz von Buchungssystemen, indem sie eine nachvollziehbare Abwicklung von Transaktionen ermöglicht und Betrugsrisiken minimiert.12

Fahrgäste erwarten digitale Services. Handy mit Zug und Passagiere im Hintergrund
Fahrgäste erwarten digitale Services. Mit einfacher Buchung, personalisierten Angeboten und Echtzeitinformationen lässt sich die Kundenzufriedenheit steigern.
Fahrgäste erwarten digitale Services. Handy mit Zug und Passagiere im Hintergrund
Fahrgäste erwarten digitale Services. Mit einfacher Buchung, personalisierten Angeboten und Echtzeitinformationen lässt sich die Kundenzufriedenheit steigern.

Pünktlicher, zuverlässiger, schneller: Digitalisierung der Infrastruktur

Die zweite wichtige Weichenstellung, um den Schienenverkehr attraktiver zu machen, besteht aus dem Dreiklang Pünktlichkeit Zuverlässigkeit und Geschwindigkeit. Zentrale Voraussetzung dafür ist die Digitalisierung der Schieneninfrastruktur. Sie ist eng verbunden mit dem europaweit einheitlichen, technologischen Zugsicherungssystem European Train Control System (ETCS) und dem automatisierten Fahrbetrieb Automatic Train Operation (ATO) – einer Art „Autopilot“ für Züge. ETCS ersetzt alte Signalsysteme durch funkbasierte Echtzeit-Kommunikation zwischen Zügen sowie zwischen Strecke und Zug, wodurch Züge dichter und sicherer fahren können. Dies erlaubt eine höhere Zugfrequenz und steigert die Gesamtkapazität um bis zu 20 Prozent.

Damit werden die Kapazitäten bestehender Strecken erhöht – ohne dafür neue Strecken zu bauen. Mit ETCS Level 3 wird zudem ein fahrerloser Betrieb möglich, der den aktuellen Lokführermangel kompensiert und die Effizienz im Schienenverkehr weiter verbessert.13 Ergänzend dazu optimiert das Capacity and Traffic Management System (CTMS) den Verkehrsfluss und die Netzwerkauslastung – ein entscheidender Faktor für Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit.14 Die Überwachung von Signalanlagen und Schaltkomponenten reduziert das Risiko von Unfällen und Störungen. Weichensensoren ermöglichen eine Ferndiagnose des Weichenzustands und erleichtern die frühzeitige Wartung, wodurch Störungen vermieden werden und Wartungskosten um 15 bis 20 Prozent reduziert werden können. Präzisere Steuerungs- und Überwachungssysteme verbessern die Koordination des Zugverkehrs und erhöhen die Robustheit des Systems.

 

Durchgängig digital: Moderne Fahrzeuge und digitaler Fahrbetrieb

Das volle Potenzial der Digitalisierung im Schienenverkehr kann jedoch nur durch ein präzises Ineinandergreifen von Infrastruktur, Fahrzeugen und Fahrbetrieb realisiert werden. Dies erfordert eine sichere, kompatible und standardisierte technische Integration, die sowohl nationale als auch europäische Anforderungen erfüllt. Die Harmonisierung dieser Standards ist essenziell, um den Schienenverkehr effizienter zu gestalten und seine Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Verkehrsträgern zu stärken. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Modernisierung der Züge: Hochentwickelte On-Board-Systeme ermöglichen die Übertragung von Echtzeitdaten und schaffen die Basis für vorausschauende Wartung. Sensoren zur Überwachung kritischer Komponenten wie Bremsen, Achsen und Klimaanlagen erhöhen die Betriebssicherheit, minimieren Ausfallzeiten und erhöhen die Betriebsstabilität.

Eine nachhaltige Pünktlichkeit von deutlich über 90 Prozent kann erreicht werden – die vollständige Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette sowie der relevanten Schnittstellen schafft wichtige Voraussetzungen dafür. Dies umfasst automatisierte Dispositionssysteme, KI-gestützte Prognosetools für Verkehrsströme und integrierte Plattformen für die Kommunikation zwischen Infrastruktur, Zugpersonal und Fahrgästen.

90% Pünktlichkeit der Züge mit Digitalisierung
Durch Digitalisierung kann Pünktlichkeit im Zugverkehr langfristig sichergestellt werden.
90% Pünktlichkeit der Züge mit Digitalisierung
Durch Digitalisierung kann Pünktlichkeit im Zugverkehr langfristig sichergestellt werden.

Wie die Digitalisierung in Europa beschleunigt werden kann

Um die Digitalisierung des Schienenverkehrs zu beschleunigen, muss sie aktiv von den Top-Managern der Branche – sowohl in Bahnunternehmen als auch bei den Herstellern von Zügen – vorangetrieben und durch eine enge Zusammenarbeit mit den Staaten unterstützt werden. Um die Transformation erfolgreich zu gestalten, sollten folgende Initiativen im Fokus stehen.

 

Infrastrukturausbau verlässlich planen und finanzieren

Erhebliche Investitionen in die Modernisierung von Infrastruktur und Fahrzeugen sind erforderlich. Staatliche Finanzierungsprogramme sollten diese mittelfristigen Planungen absichern und die Einbindung von Privatkapital ermöglichen. Notwendig ist zudem die Entwicklung eines grenzüberschreitenden Masterplans, um die Leitplanken für den Schienenverkehr zu setzen. Dazu gehören eine belastbare Planung und der Ausbau des Schienennetzes, einheitliche technologische Vorgaben sowie eine Verpflichtung für die zeitliche Umsetzung, regulatorische Rahmenbedingungen und eine mehrjährige stabile Finanzierung. Ein Blick auf bestehende Initiativen der EU-Kommission, wie das Trans-European Transport Network (TEN-T), kann hier als Orientierung dienen.15

 

Europaweite Standards etablieren

Gesetzliche Rahmenbedingungen sollten die Digitalisierung des Schienenverkehrs unterstützen, insbesondere durch harmonisierte Anforderungen für Automatisierung und Digitalisierung. Eine internationale Harmonisierung von Mobilitätsdaten ist notwendig, um den Datenaustausch zu fördern und Innovationen zu ermöglichen.13 Durch einheitliche Zulassungen für Betrieb, Leit- und Sicherungstechnik sowie Fahrzeuge werden grenzüberschreitende Verkehre vereinfacht. Dazu gehören auch Standards für Kompatibilität mit einheitlichen Schnittstellen und Datenformaten. So können neue Technologien nahtlos integriert und Kosten sowie Entwicklungszeiten reduziert werden.16

 

Förderung von Innovationen

Gezielte Anreize für die Entwicklung und Anwendung neuer Technologien sind nötig. Dazu gehören Förderprogramme für Start-ups, die innovative Lösungen entwickeln, sowie Pilotprojekte zur Bewertung neuer Technologien.17 Ein Beispiel dafür ist das Future Railway Mobile Communication System (FRMCS) auf 5G-Basis, ein modernes Kommunikationssystem, das sowohl der Sprach- als auch der Datenkommunikation dient und die Digitalisierung des Schienenverkehrs unterstützt.18 Partnerschaften mit Technologieunternehmen und anderen Verkehrsträgern sind essenziell, um digitale Lösungen zu entwickeln und umzusetzen. Projekte wie das European Rail Traffic Management System (ERTMS) fördern grenzüberschreitende Zusammenarbeit und harmonisieren Zugsicherungssysteme in Europa.19

All diese Maßnahmen erhöhen Effizienz, Sicherheit und Zuverlässigkeit des Schienenverkehrs nachhaltig. Sie bilden die Grundlage für eine zukunftsfähige und leistungsstarke Schiene. Damit die Bahn ihre Rolle als Rückgrat einer nachhaltigen Mobilität erfüllen kann, ist jetzt Tempo bei der Digitalisierung gefragt. Der europäische Schienenverkehr steht am Beginn einer neuen Ära, in der Digitalisierung zum entscheidenden Treiber für Attraktivität, Effizienz und Wachstum wird – zum Nutzen von Fahrgästen, Betreibern und der Gesellschaft insgesamt.

Kernaussagen
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Eine Steigerung der Fahrgastzahlen erfordert verbesserte Kundenerlebnisse, erhöhte Pünktlichkeit und mehr Kapazität in der Infrastruktur.
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Die Digitalisierung und Modernisierung von Fahrzeugen, Infrastruktur und Fahrbetrieb ermöglicht eine Pünktlichkeit von über 90 Prozent.
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Die nachhaltige Digitalisierung des europäischen Bahnsektors erfordert die Zusammenarbeit von Staat, Bahnunternehmen und Zugherstellern.

Appendix

Sources

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