Geopolitische Risiken nehmen zu
Seit einigen Jahren wächst im Topmanagement von Unternehmen das Bewusstsein dafür, wie komplex und unberechenbar das Zusammenspiel zwischen Unternehmen, Volkswirtschaften und Gesellschaften ist.1 Humanitäre Krisen wie die Coronapandemie sowie Zwischenfälle auf wichtigen Schifffahrtsrouten wie dem Suezkanal haben Geopolitik, Wirtschaft, Handel, den Energiesektor und die Finanzmärkte erheblich gestört. Kriege und bewaffnete Konflikte in verschiedenen Ländern der Welt haben Folgen für die Reputation von Unternehmen, für Märkte, Lieferketten und Belegschaften und führen unter anderem zu steigenden Rohstoffpreisen, höheren Frachtkosten und instabilen Lieferketten.
Die Häufigkeit und das Ausmaß geopolitischer Risiken haben in den letzten Jahren spürbar zugenommen. In einer gemeinsamen Umfrage2 von Porsche Consulting und dem Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e. V. (BME) aus dem ersten Quartal 2024 wurden Entscheidungsträger aus dem Supply Chain Management aus über 100 vorwiegend industriellen Unternehmen innerhalb der DACH-Region (Deutschland, Österreich und Schweiz) gefragt, welche Risiken für die Liefersicherheit ihrer Einschätzung nach am höchsten sind. Dabei wurde das Risiko geopolitischer Spannungen mit 72 Prozent am höchsten eingeschätzt. Zum Vergleich: Potenzielle Risiken durch Cyberangriffe wurden mit nur 35 Prozent relativ gering bewertet, was einmal mehr die Brisanz geopolitischer Risiken in den Mittelpunkt rückt.
Zudem weisen auch zahlreiche andere Quellen auf den Trend wachsender geopolitischer Spannungen und deren Auswirkungen auf globale Branchen hin. So ist der unter Ökonomen weitläufig anerkannte GPR-Index (Geopolitical Risk Index) in den vergangenen zehn Jahren um 40 Prozent gestiegen3. Das ist unter anderem auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine sowie den anhaltenden militärischen Konflikt im Nahen Osten zurückzuführen.
Auch der geopolitische Risikoindikator des US-Vermögensverwalters BlackRock, welcher Marktreaktionen auf geopolitische Risiken misst, verzeichnet seit 2019 einen deutlichen Anstieg.4 Insgesamt nehmen die Häufigkeit und Schwere geopolitischer Risiken zu, sodass viele Unternehmen auf mehr Robustheit in den Lieferketten setzen. Dieser Trend wird voraussichtlich anhalten und macht geopolitische Risiken zu einem kritischen Faktor für Unternehmen weltweit. Folglich setzen viele Unternehmen das Thema Resilienz – also die Fähigkeit, sich erfolgreich an Veränderungen anzupassen – ganz nach oben auf ihre Agenda.
Trotzdem verlieren viele Unternehmen das Thema Resilienz häufig aus dem Blick, sobald eine Krise überstanden ist. Tatsächlich gibt es nur wenige Unternehmen, die ihre Erkenntnisse systematisch dokumentieren und Resilienz fest in ihre Abläufe integrieren. Der Grund dafür ist häufig eine sehr enge Definition von Resilienz. Viele Unternehmen verstehen darunter in erster Linie ein Mittel, um die betriebliche Kontinuität in Krisenzeiten kurzfristig zu sichern.1
Dabei kann eine unzureichende Resilienz-Strategie die finanzielle Bilanz von Unternehmen erheblich beeinträchtigen. Dies zeigen die Verluste, die Unternehmen aufgrund geopolitischer Entwicklungen erleiden mussten: So verzeichnete ein weltbekanntes Unternehmen für Unterhaltungselektronik Verluste in Höhe von schätzungsweise 10 Mrd. US-Dollar. Mehrere Einzelhandelsketten führten geschätzte Verluste von rund 500 Mio. US-Dollar auf geopolitische Verwerfungen zurück. Einige Unternehmen aus der Luft- und Raumfahrtindustrie erleiden aufgrund von geopolitischen Umbrüchen jährliche Verluste von mehr als 7 Mrd. US-Dollar.
Warum aber führen geopolitische Risiken zu derart hohen Verlusten? Ganz einfach: Geopolitische Risiken betreffen das gesamte Unternehmen und wirken sich auf alle Funktionen aus:
• Beschaffung – durch Liefer- und Logistikrisiken
• Fertigung und Produktion – durch internationale Standorte und geografische Abhängigkeiten
• Finanzen – durch Sanktionsrisiken, den Verlust von fertigen Erzeugnissen und gebundenes Kapital
• Forschung und Entwicklung – durch den starken Einfluss des geopolitischen Wettlaufs um Technologieführerschaft
• Personalwesen – weil Mitarbeitende und die Unternehmenskultur, selbst in Hochrisikoregionen, geschützt werden müssen
• Vertrieb – wegen der Abhängigkeit von politischen und gesetzgeberischen Entscheidungen zu Einschränkungen und Sanktionen im Zusammenhang mit inländisch produzierten Waren und verwendeten Ersatzteilen
Resilienz – mehr als ein Lösungsansatz für Krisenzeiten
Mit resilienten Lieferketten können Unternehmen krisenbedingte Kosten vermeiden, indem möglichen Störungen bereits vorbeugend entgegengewirkt wird. Zum Beispiel können sie mit alternativen Beschaffungsstrategien und Pufferbeständen Kosten vermeiden, die mit Notfall-Taskforces und Expressversand einhergehen und bei der Berechnung der Gesamtbetriebskosten (TCO) meist nicht berücksichtigt wurden. Durch einen solchen proaktiven Ansatz können erhebliche finanzielle Verluste in Krisen vermieden werden. Tatsächlich hat die Hälfte der Befragten angegeben, dass sie sich durch eine bessere Resilienzplanung einen beträchtlichen Teil ihrer Krisenmanagementkosten hätten sparen können.
Lieferengpässe durch den Ukraine-Krieg oder die Coronapandemie haben gezeigt, dass resiliente Unternehmen in allen Bereichen besser abschneiden: Sie erholen sich schneller von Krisen, haben deutlich weniger Ausfallzeiten, erzielen bessere finanzielle Ergebnisse bei stabilen Umsätzen und profitieren von deutlich robusteren Lieferketten ohne wesentliche Unterbrechungen in Produktion und Vertrieb. Zu diesem Ergebnis kommt auch unsere Umfrage, in der die meisten der befragten Unternehmen zustimmen, dass resiliente Lieferketten die Liefersicherheit gewährleisten und darüber hinaus die Gesamtrentabilität des Unternehmens erhöhen.
Doch resiliente Lieferketten reduzieren nicht nur Risiken und vermeiden finanzielle Verluste in Krisensituationen. Die gewonnene Transparenz und die ergriffenen Maßnahmen können auch zu erheblichen Kosteneinsparungen, höheren Marktanteilen sowie größerer Flexibilität beim Reagieren auf plötzliche Nachfragespitzen führen. In der oben erwähnten Umfrage haben 50 % der Befragten angegeben, dass sie mindestens die Hälfte der in Krisenzeiten angefallenen Kosten für Taskforce-Aktivitäten durch eine resiliente Lieferkette hätten vermeiden können.
Vorteile auch für stabile Zeiten
All diese Tatsachen unterstreichen, dass echte Resilienz umfassender ist und unter anderem auch die Fähigkeit eines Unternehmens beschreibt, Stress zu absorbieren, kritische Funktionen wiederherzustellen und unter neuen Bedingungen zu wachsen. Somit geht Resilienz eindeutig über operative Belange hinaus und stellt einen strategischen Vorteil für Unternehmen dar.
Neben Kosteneinsparungen und Effizienzsteigerungen bieten resiliente Lieferketten den Vorteil, dass Unternehmen selbst in Krisenzeiten Marktchancen nutzen können. Unternehmen mit robusten Lieferketten sind nämlich in der Lage, die Kundennachfrage auch dann noch zu erfüllen, wenn es bei Wettbewerbern zu Engpässen und Verzögerungen kommt. Diese Fähigkeit, die betrieblichen Abläufe aufrechtzuerhalten, sichert nicht nur die Kundenzufriedenheit, sondern ermöglicht es Unternehmen auch, Marktanteile von Wettbewerbern zu erobern, die weniger gut auf eine Krise vorbereitet sind. Die aktuelle Umfrage von Porsche Consulting und dem BME zeigt, dass 30 Prozent der befragten Unternehmen dank resilienter Lieferketten in der Lage waren, in Krisenzeiten höhere Umsätze zu erzielen.
Resiliente Lieferketten sind jedoch nicht nur in Krisen von Vorteil, sondern helfen auch in stabilen Zeiten, Kosten zu senken. Transparente und ständig verbesserte Lieferkettenprozesse ermöglichen es Unternehmen, Ineffizienzen zu erkennen, Abläufe zu optimieren und strategische Make-or-Buy-Entscheidungen zu treffen. Laut unserer Umfrage nutzten 61 Prozent der Teilnehmenden die Transparenz ihrer Lieferketten zur Kostenoptimierung. Diese kontinuierliche Verbesserung der eigenen Lieferkettenstruktur führt zu einer besseren Ressourcennutzung, weniger Abfall und insgesamt niedrigeren Kosten.
Darüber hinaus fördert eine resiliente Lieferkette die strategische Agilität und Flexibilität. Unternehmen können schneller auf eine veränderte Nachfrage reagieren, unabhängig davon, ob sie von Marktentwicklungen oder unvorhergesehenen Ereignissen hervorgerufen wurde. Diese Agilität hilft nicht nur, die betriebliche Kontinuität zu sichern, sondern ermöglicht es auch, Marktchancen schneller zu nutzen als die Konkurrenz. Diese Fähigkeit, sich schnell und effektiv an neue Bedingungen anzupassen, ist im heutigen dynamischen Marktumfeld ein entscheidender Wettbewerbsvorteil.
In drei Schritten zur Risikominderung
Unternehmen sollten zunächst eine umfassende Strategie entwickeln, um auf potenzielle Störungen der Lieferkette zu reagieren, ihnen standzuhalten und sich möglichst schnell von ihnen zu erholen. Beim Aufbau von Resilienz sind vor allem drei Schritte entscheidend: Analyse, Maßnahmenentwicklung und Umsetzung.
In der ersten Phase steht die Erkenntnisgewinnung im Vordergrund. Diese beginnt mit einer umfassenden Risikoanalyse, bei der potenzielle Risikoszenarien identifiziert und bewertet werden. Dazu gehört die Bewertung der Eintrittswahrscheinlichkeit und der möglichen Triggerpunkte, die Risiken verstärken könnten. Wichtige Risikofaktoren wie globale Standortnetze, Sanktionen, gesetzliche Vorschriften, internationale Liefersicherheit, politische Instabilität, Pandemien, Logistik, Lohnkosten und finanzielle Stabilität werden für alle relevanten Regionen der Lieferkette analysiert. Um die „richtigen“ Risiken zu identifizieren, sollte die Analyse auf kritische Komponenten der Lieferkette fokussiert werden, die sich beeinflussen lassen.
Allgemein lassen sich Risikoszenarien nach ihrer Wirkung kategorisieren: rein finanzielle Auswirkungen, kurzfristige Produktionsunterbrechungen oder langfristige Produktionsausfälle. Diese Klassifikation ist entscheidend, um die möglichen Auswirkungen und das Ausmaß der Risiken im Unternehmenskontext vollständig zu verstehen und zu beschreiben. In dieser Phase wird ermittelt, inwieweit die Risikoszenarien minimiert werden können, bevor konkrete Maßnahmen festlegt werden.
In der zweiten Phase geht es darum, wirksame Maßnahmen zur Minderung der identifizierten Risikoszenarien zu entwickeln. Dabei werden sowohl die wirtschaftlichen Auswirkungen der Lösungsansätze als auch die Vorteile der einzelnen Maßnahmen bewertet. Schließlich müssen Unternehmen alle Maßnahmen in einem detaillierten Implementierungsplan zusammenfassen, um sicherzustellen, dass sie im Bedarfsfall schnell und effektiv umgesetzt werden können.
Umsetzung der identifizierten Maßnahmen ist für die Steigerung der Resilienz entscheidend. Dabei müssen sowohl die Risiken als auch die Maßnahmen zur Risikominderung regelmäßig überprüft werden – idealerweise von speziell dafür zuständigen Mitarbeitenden. Diese Funktion muss klare Regeln für die regelmäßigen Prüfungen festlegen, um strategische Entscheidungen zu erleichtern – etwa die Neuvergabe von Lieferantenverträgen oder relevante Investitionen. Auch Maßnahmen wie interdisziplinäre Schulungen, dezentrale Entscheidungsfindung und strategische Vorräte tragen zur Steigerung der Agilität bei.
Das Wichtigste in Kürze
Geopolitische Risiken nehmen zu und stellen Unternehmen weltweit vor erhebliche Herausforderungen. Aktuelle Daten verdeutlichen, wie wichtig es ist, dass Unternehmen ihre Resilienz stärken – und zwar nicht nur als kurzfristige Krisenreaktion, sondern als integraler Bestandteil ihrer Unternehmensstrategie. Die gemeinsame Umfrage von Porsche Consulting und dem BME zeigt, dass geopolitische Umbrüche derzeit das größte Risiko für Lieferketten darstellen. Die damit verbundenen finanziellen Verluste für Unternehmen unterstreichen, wie wichtig ein robustes Risikomanagement und tragfähige Resilienz-Strategien sind.
Resiliente Lieferketten bieten zahlreiche Vorteile. Dazu gehört die Fähigkeit, sich schnell und effektiv an neue Bedingungen anzupassen, die betriebliche Kontinuität zu sichern und Marktchancen zu nutzen. Unternehmen, die Resilienz fest in ihre Abläufe integrieren, erholen sich schneller von Krisen, schneiden finanziell deutlich besser ab und profitieren selbst in globalen Krisen von stabilen Lieferketten. Weitere Vorteile sind potenzielle Kosteneinsparungen und Wettbewerbsvorteile.
Um geopolitische Risiken effektiv zu steuern und resiliente Lieferketten zu fördern, sollten Unternehmen eine umfassende Strategie entwickeln. Diese Strategie sollte die Phasen Analyse, Maßnahmenentwicklung und Umsetzung umfassen. Dazu gehören fundierte Risikoanalysen, die Entwicklung geeigneter Maßnahmen zur Risikominderung und ihre flexible Umsetzung. Durch kontinuierliche Überprüfung und Anpassung ihrer Strategie können Unternehmen sich auf dem komplexen Weltmarkt besser behaupten.
Insgesamt reduzieren Unternehmen auf diese Weise nicht nur die negativen Folgen geopolitischer Spannungen, sondern nutzen Resilienz auch als Wettbewerbsvorteil, um in einem zunehmend volatilen Marktumfeld langfristig stabil und erfolgreich zu bleiben.
Appendix
- (1)
Harvard Business Review | Make Resilience Your Company’s Strategic Advantage | March 2022 | https://hbr.org/2022/03/make-resilience-your-companys-strategic-advantage
- (2)
Porsche Consulting & BME | Supply Chain Resilience Survey 2023
- (3)
Statista | Geopolitical Risk Index (GPR) from February 1985 to March 2024 | April 2024 | https://www.statista.com/statistics/1445888/geopolitical-risk-index/#:~:text=The%20Geopolitical%20Risk%20Index%20is,indicates%20a%20higher%20risk%20level.
- (4)
BlackRock Investment Institute | Geopolitical risk dashboard | April 2024 | https://www.blackrock.com/corporate/insights/blackrock-investment-institute/interactive-charts/geopolitical-risk-dashboard
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