Die große Schatzsuche
Wie Volkswagen zeigt, dass Daten mehr wert sind
08.08.2024 | Artikel
Dass Daten einen wahren Schatz darstellen, ist schon lange kein Geheimnis mehr. Wie man sie im Rahmen von Konzernstrukturen sinnvoll nutzbar macht, hingegen schon – jedenfalls ist das in vielen Industrieunternehmen noch eine ungelöste Aufgabe. Volkswagen macht nun vor, wie es geht. Mit Patricia Stich und Sven Lorenz geben zwei hochrangige Schatzsuchende Einblicke in die Datenstrategie des Automobilkonzerns und ihre Umsetzung.
Volkswagen hebt den Datenschatz
Zehn Auto-Marken, neun Millionen Fahrzeuge jährlich – und jedes davon erzeugt durch Hunderte von Sensoren ständig Daten. Scheibenwischer, Klimaanlage, Reifendruck, Geschwindigkeit – was kann man damit anfangen? „Die Wissenden wissen Bescheid“, sagt Sven Lorenz, Head of Group Data & AI beim Volkswagen-Konzern, und meint damit, dass solche Daten zunächst nur einem sehr kleinen Kreis an Nutzern zur Verfügung stehen. Sie werden für einen bestimmten Zweck generiert und liegen nur in der dafür nutzbaren Form vor. „Wenn wir die Daten aus ihrem ursprünglichen Kontext herausholen, können sie Mehrwert an ganz anderen Stellen liefern“, so Lorenz.
Dann werden neue Anwendungen denkbar, etwa dass durch die angepasste Fahrweise vieler Fahrzeuge eine Gefahrenstelle auf der Straße identifiziert wird. Oder dass Qualitätsmängel an verbauten Teilen nach kürzester Zeit erkannt und gar nicht erst in weitere Neufahrzeuge eingebaut werden. Möglichkeiten gibt es viele. Einzelne Unternehmen – auch aus dem Volkswagen-Konzern – sind hierbei schon sehr weit. Hauke Stars, IT-Vorständin des Volkswagen-Konzerns, will die Geschwindigkeit insgesamt erhöhen: „Wir alle teilen das Verständnis, dass Digitalisierung ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist, um noch schneller, besser, effizienter zu werden.“
Vom Schaufenster zum Daten-Shopping
Die Krux: Will man die Daten weiteren Zwecken zuführen, müssen sie zunächst aufbereitet und katalogisiert werden. Sven Lorenz’ Vision: „Die Nutzung von Daten im Konzern soll so einfach sein wie Online-Shopping.“ Die Daten müssten sozusagen ins Schaufenster gestellt werden. Jemand mit einer Idee kann dort nachschauen, welche Daten prinzipiell zur Verfügung stehen. Bei Interesse kann ein Bestellprozess ausgelöst werden. Dann wird geprüft, ob die Daten für den angestrebten Zweck genutzt werden dürfen und können – teilweise automatisiert. Im Idealfall folgt kurz darauf die Lieferung der gewünschten Daten. „Wir nennen das den Data-Shopping-Prozess“, so Lorenz.
Die Grundlagen für dieses Vorgehen sind bei Volkswagen inzwischen geschaffen. Der Informatiker Lorenz nennt die Quantität, Qualität und Zugänglichkeit von Daten als Erfolgsfaktoren. Sind diese Anforderungen erfüllt, können Analytik und Künstliche Intelligenz sinnvoll zum Einsatz kommen. „Gemeinsam mit Porsche Consulting sind wir hier ein großes Stück vorangekommen“, so Lorenz. Die wichtigste Voraussetzung für seine Strategie ist aber keine Technik und keine Governance-Struktur, sondern das Umdenken der Mitarbeitenden – unterstützt durch das Management.
Wenn es um den Umgang mit Daten geht, unterscheidet Lorenz zwei Gruppen innerhalb des Unternehmens: die Nutzer und die Eigner. Die erste Gruppe hat ein Interesse an Daten, die anderswo im Unternehmen entstehen. Sie müssen im verantwortungsvollen Umgang mit Daten geschult sein. Die Eigner wiederum sind diejenigen, die an der jeweiligen Datenquelle sitzen. Sie müssen bereit sein, ihre Daten mit anderen zu teilen – im doppelten Sinne: technisch und von der inneren Haltung her. Bei Daten gilt zwar nicht unbedingt „Mehr ist mehr“, aber durch Nutzung der richtigen Daten an den richtigen Stellen entsteht unter dem Strich mehr Wert – davon ist Lorenz überzeugt.
Mehr Wert durch geteilte Daten
Entwicklung, Produktion, Qualität, After Sales – viele Bereiche des Unternehmens sind auf Fahrzeugdaten aus der täglichen Anwendung und Nutzung angewiesen, um Produkte und Prozesse zu verbessern. Doch nicht nur die internen Bereiche profitieren von den geteilten Daten. Hier kommt Patricia Stich, Vorständin der VW Group Info Services (GIS) AG, ins Spiel. Die gebürtige Paderbornerin leitet die VW-Tochter, die 2019 gegründet wurde. Sie fungiert als zentrale Schnittstelle für Datenbereitstellung an Dritte, durch die externe Unternehmen wie zum Beispiel Versicherer, Flottenbetreiber oder Werkstätten sowie für diese Branchen tätige Softwareunternehmen ebenfalls Fahrzeugdaten erhalten können. „Wir ermöglichen unseren Partnern die effektive Nutzung der Fahrzeugdaten aus der Volkswagen Gruppe, um damit wirksame digitale Services und relevante Geschäftsmodelle zu entwickeln“, so Stich.
Täglich werden tausende Male Daten bei der VW GIS AG von Dritten für unzählige Fahrzeuge der Marken VW, Audi, Skoda, Seat und Cupra abgefragt. „Durch unternehmensübergreifende Verbindungen machen wir Daten zum Kern des Wertschöpfungsprozesses der digitalen Services rund um unsere Fahrzeuge. Durch die Bereitstellung aus einer Hand, durch harmonisierte Verträge, vereinheitlichte Technik und ganzheitliche Verantwortung von der Idee über die Umsetzung bis zur Kundenbetreuung ermöglichen wir wirksame Kooperationen, in denen – Schritt für Schritt – vielfältige, digitale Lösungen entstehen“, erklärt Stich.
Das ist die Aufgabe ihres spezialisierten Teams, das in flexibler und agiler Arbeitsweise oft zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten daran arbeitet – typisch Start-up, aber eben innerhalb eines der größten Unternehmen der Welt. „Die VW GIS AG hat sich seit ihrer Gründung rasant entwickelt und spielt eine wichtige Rolle für Volkswagen. Dabei greifen wir auf ein starkes Netzwerk im Konzern zurück und Porsche Consulting hat uns seit der Gründung als strategischer Partner begleitet“, so Stich. Ihr Antrieb: „Daten bilden die Grundlage der Digitalisierung des automobilen Ökosystems und sind somit das Sprungbrett der digitalen Zukunft. Auf diese Weise gestalten wir die Zukunft der Mobilität maßgeblich und aktiv mit.“
Geschäftswert aus Daten als Zauberformel
Die Zauberformel in diesem Zusammenhang heißt, Geschäftswert aus den Daten zu generieren. „Ein gutes Beispiel für unsere datenbasierten, digitalen Dienste ist optimiertes Flottenmanagement für gewerbliche Kunden. Durch die enge Kooperation mit unterschiedlichen, spezialisierten Softwareunternehmen legen wir die Grundlage für die systematische Analyse von Fahrzeugdaten. Auf diese Weise verhelfen wir unseren Kunden, deren Betriebskosten zu senken sowie die Sicherheit der Fahrer und die Nachhaltigkeit der Flotten zu erhöhen. Damit steigern wir unmittelbar den Mehrwert der Fahrzeuge und ermöglichen dem Halter gleichzeitig, eine digitale Lösung zu wählen, die seinen Anforderungen entspricht“, erklärt Stich. So können beispielsweise Mietwagenflotten ohne die aufwendige Nachrüstung sogenannter Dongles hinsichtlich des Wartungsbedarfs oder Kontrollleuchten überwacht werden. „Ebenso generieren wir durch die Optimierung unserer Lieferketten im Rahmen unseres Engagements im Catena-X-Netzwerk zusammen mit dem Konzern erhebliche wirtschaftliche Vorteile, die sowohl unserem Unternehmen als auch unseren Kunden zugutekommen“, so Stich.
Hört man der Betriebswirtin zu, könnte man meinen, es gebe kein faszinierenderes Thema auf der Welt als Daten: „Ich liebe und lebe Daten – beruflich und privat.“ So wie Patricia Stich Auswertungen ihrer Smartwatch über ihre persönliche Performance erhält, so können auch zu jedem individuellen Fahrzeug auf Knopfdruck Einblicke über den aktuellen Zustand gewonnen werden. Werkstätten können beispielsweise mit dem Produkt „Vehicle Identity“ Informationen zum Fahrzeug abrufen, das vor ihnen steht, um zielgerichtet Zugang zu den richtigen Teilen und Arbeitsschritten zu bekommen.
Win-win-Situation per Gesetz
Das alles erfordert ein Umdenken aller Beteiligten. Doch die Verfügbarkeit der Daten ist nicht nur ein strategischer Wettbewerbsvorteil. Sie wird auch zur Pflicht: Der EU Data Act verpflichtet Unternehmen ab September 2025 dazu, jedem Kunden auf Anfrage die Daten bereitzustellen, die er mit dem Produkt generiert hat. Des Weiteren müssen Daten an Dritte weitergeleitet werden, wenn der Kunde es erlaubt – zum Beispiel an Versicherungen. Obwohl es so klingt, als könnten eher andere ein Geschäft mit den Daten machen und die Hersteller hätten vor allem den Aufwand, ist hier mit einer Win-win-Situation zu rechnen. Sven Lorenz betrachtet die Sache so: „Das EU-Gesetz sorgt dafür, dass Daten nicht nur dem Dateninhaber zur Verfügung stehen. Gleichzeitig hat das Gesetz für eine Öffnung für das Geschäft mit Daten gesorgt – mit einem europäischen Datenschutzverständnis.“
Diese Öffnung kommt nicht zuletzt den Endkunden zugute. Das gesamte Ökosystem rund um das Fahrzeug soll deutlich attraktiver werden. So ist zu erwarten, dass der einfachere Zugang zu Daten zu einem starken Wachstum hoch innovativer Geschäftsideen rund um die Fahrzeuge führen wird: von Echtzeit-Parkplatzvorschlägen über bedarfsbasierte Infrastrukturplanung von z. B. Ladesäulen bis hin zu einem breiteren Angebot an direkt mit den Fahrzeugen verknüpfte Smartphone-Apps und Smarthome-Anwendungen. Auf diese Art können z. B. durch Automatisierung erhebliche Kosten eingespart werden und so lukrative Geschäftsmodelle entstehen. Zumindest immer dann, wenn der individuelle Fahrer dafür seine Zustimmung gibt.
Datenschutz oder Datenschatz?
Und so sind Datenschutz und Datenschatz keine Gegenteile, sondern gehen Hand in Hand, wie auch Patricia Stich betont: „Die Erfordernisse des EU Data Acts und der Datenschutzgrundverordnung sind wichtige Voraussetzungen für die Akzeptanz und das Vertrauen in die Datennutzung und eröffnen eine breitere und gleichzeitig sichere und transparente Nutzung von Daten. Diese Kombination ist eine starke Grundlage für uns, zusammen mit unseren Partnern die Vorteile einer dynamischen, innovativen Wertschöpfungskette freizulegen, zum Vorteil unserer Fahrer, Fahrzeugbesitzer, Marken und des Konzerns.“
David Blecher, Partner bei Porsche Consulting, hat die Einführung der Datenstrategie und den Aufbau der VW GIS AG eng begleitet. „Damit hat Volkswagen einen neuen Pfad im Umgang mit Daten eingeschlagen, von dem sich viele Industrieunternehmen etwas abschauen könnten.“ Er erwartet eine steile Entwicklung des Datengeschäfts. „Wir gehen in absehbarer Zeit von zehn Millionen Anfragen pro Tag aus. Das ist nur mit professionellen und automatisierten Strukturen leistbar.“ Stichs Team ist auf Wachstum vorbereitet: „Das Anfragevolumen wächst stetig, da Datenanalytik und Künstliche Intelligenz zunehmend in unseren Alltag integriert werden. Seit dem vergangenen Geschäftsjahr konnten wir in jedem Quartal unser Transaktionsvolumen verdoppeln.“ Auch das Angebot der VW GIS AG wächst. Bisher sind die Produkte in Europa erhältlich, aber Expansionen, beispielsweise in die USA, sind in Planung.