Industrialisierung und Modularisierung in der Bauindustrie
Das Gebäude der Zukunft wird nicht mehr gebaut, sondern produziert und montiert.
06.09.2022 | Artikel
Seit der Finanzkrise im Jahr 2009 befindet sich die Baubranche in einem stetigen Aufwärtstrend. Die hohe Nachfrage und der kontinuierliche Bedarf an Wohn-, Bildungs- und Senioreneinrichtungen sorgen dafür, dass sich dieser Trend auch zukünftig fortsetzen wird.
Besonders in Großstädten ist bezahlbarer Wohnraum knapp. Die deutsche Bundesregierung hat sich aus diesem Grund für die Legislaturperiode das ambitionierte Ziel gesetzt, 400.000 Wohneinheiten pro Jahr zu bauen, davon 100.000 Sozialwohnungen.1 Ähnliche Entwicklungen sind auch in Großbritannien zu beobachten. So strebt die britische Regierung den Bau von 300.000 Wohnungen pro Jahr an.2 Trotz des stark wachsenden Geschäftsumfelds ist das Potenzial der Bauwirtschaft noch nicht voll ausgeschöpft.
Im Vergleich zu anderen Branchen kann die Bauindustrie mit den kontinuierlichen Produktivitätssteigerungen nicht Schritt halten (Grafik 1). So reagiert die Bauwirtschaft auf die stetig wachsende Nachfrage mit dem klassischen Projektansatz, der im Laufe der letzten 30 Jahre keine nennenswerten Produktivitätssteigerungen verzeichnete. Trotz verschiedener Versuche, die Effizienz zu steigern, ist der Großteil der Arbeitsmethoden im Baugewerbe weiterhin traditionell.
Instabile Lieferketten, steigende Rohstoffpreise und ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften stellen zusätzliche Herausforderungen dar und machen es für Bauunternehmen zunehmend schwieriger, profitabel am Markt zu agieren.
Wie kann die Bauindustrie auf die vielfältigen Herausforderungen reagieren? Eine Möglichkeit, um noch besser von dem zukünftigen Nachfragewachstum zu profitieren, stellt der Wandel von einem klassischen Projektansatz hin zu einer industrialisierten und modularen Bauweise dar. Die intelligente und modulare Produktstruktur ermöglicht es, auf die individuellen Bedürfnisse der Kunden einzugehen und gleichzeitig die interne Komplexität durch die Verwendung gleicher Module und Komponenten für verschiedene Produkte auf ein Minimum zu reduzieren. Der erhöhte Standardisierungsgrad der Produkte ermöglicht es Bauunternehmen, ähnlich wie in der Automobilindustrie, Bauteile in Serie zu fertigen und in Produktionsanlagen zu montieren. Auf diese Weise können die Vorteile von Skaleneffekten genutzt werden.
Erste Unternehmen haben den Weg zum Produktgeschäft bereits eingeschlagen. Ein branchenweiter Wandel steht jedoch noch bevor. Besonders der Aspekt der Industrialisierung wird von vielen Unternehmen unterschätzt. Viele Unternehmen, die behaupten, einen „Offsite-Bau“ zu betreiben, verlagern den Betrieb nur von der Baustelle in eine Fabrikumgebung. Fehlen weiterhin die modulare Produktstruktur und das Produktionskonzept bleibt jedoch auch hier der Produktivitätssprung aus.
Das tiefergehende Problem von „Engineer-to-order“ liegt grundsätzlich nicht in der Reihenfolge der Leistungen, sondern in der Art und Weise, wie diese Leistungen erbracht werden (Grafik 2). In der Praxis beginen Entwicklung und Planung erst mit der Beauftragung des Kunden. Jeder einzelne Auftrag wird folglich als Unikat betrachtet und als solches behandelt.
Meist sind die Anforderungen des Kunden in diesem Prozessstadium nicht mit der Leistungsfähigkeit der gesamten Wertschöpfungskette abgestimmt.
Um die Produktivität nachhaltig zu steigern, muss die gesamte Planung zwischen allen Beteiligten synchronisiert werden. Hierbei muss die Entwicklung des Produkts und der technischen Lösung parallel zum Auftragsabwicklungsprozess, der Entwicklung der Lieferkette und des Bauablaufs erfolgen. Dies kann schnell zu Schnittstellenproblemen, unzureichender Zusammenarbeit, fehlenden Entscheidungen und einem unklaren Prozess führen, was in negativen Auswirkungen für den gesamten Projektverlauf resultiert: Terminverzögerungen, Kostensteigerungen und Qualitätsprobleme.
Die Hauptursache für die häufigen Abweichungen liegt folglich in der Bearbeitung des Projekts als Unikat, bei der alle Bauumfänge von Beginn an neu entwickelt und geplant werden müssen. An dieser Stelle muss ein grundlegendes Umdenken erfolgen. So muss sich der Produktansatz von der „Engineering-to-order“ Abwicklung hin zu einer „Adapt-to-order“-Abwicklung entwickeln: Vorkonzipierte und vorentwickelte Module und Komponenten werden dabei nach den Vorgaben des Kunden an das Projekt adaptiert. Wo bislang keine Standardlösungen existieren, werden sie im vorhandenen Lösungsraum neu geplant oder ergänzt. Die benötigten Module und Komponenten werden „Off-site“ in Fabriken gefertigt und vormontiert, auf die Baustelle geliefert und dort schließlich montiert. Um den steigenden Anforderungen an ökologisches Bauen gerecht zu werden, erfolgt am Ende einer geplanten Nutzung der strukturierte Rückbau und die Wiederverwertung.
„Adapt-to-order“ bietet den überzeugenden Vorteil, dass die Produkte überwiegend aus standardisierten Komponenten, Bauteilen oder sogar ganzen Modulen spezifisch zusammengestellt und errichtet werden. Auf diese Weise wird eine individuelle Lösung für die Anforderungen des Kunden geboten, nicht für die vertragliche Erbringung der Leistung. Die Prozesse der Auftragsabwicklung, der Lieferketten und der Bauabläufe können während des Produktentstehungsprozesses vor der eigentlichen Produkteinführung definiert und aufeinander abgestimmt werden.
Zu dem Zeitpunkt, an dem der Kunde den Auftrag erteilt, sind die wichtigsten Herausforderungen der traditionellen Konstruktion bereits größtenteils berücksichtigt und gelöst. Störungen durch mangelnde Synchronisation, fehlende Materialien und damit verzögerte Bauprozesse werden deutlich reduziert und der Fokus kann auf das Wesentliche gelegt werden: Mehrwert für den Kunden. Das Gebäude wird nicht mehr gebaut, sondern produziert und montiert.
1 https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/wohnungsbau-bundesregierung-2006224
2 https://commonslibrary.parliament.uk/research-briefings/cbp-7671/
3 Statistisches Bundesamt (Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen 2021, Fachserie 18 Reihe 1.5, S.61)