Neuer Blick auf China: strategische Verschiebung der Perspektive
Um in diesem veränderten Umfeld künftig erfolgreich zu sein, müssen die europäischen und amerikanischen Akteure einen strategischen Perspektiv- und Ansatzwechsel vollziehen. Von entscheidender Bedeutung ist ein strategisches Engagement auf dem chinesischen Inlandsmarkt. Das bedeutet, dass China nicht nur als Markt für Endprodukte, sondern auch als zunehmend wichtige Quelle für neue Arzneimittelkandidaten, Spitzentechnologien und wissenschaftliche Talente angesehen werden muss. Souveränes Handeln in Zeiten geopolitischer Spannungen setzt voraus, dass in diesem komplexen Umfeld kurzfristige strategische Agilität und eine klare, langfristige Vision in Einklang gebracht werden.
Eine unverzichtbare Notwendigkeit ist die Sicherung der Lieferketten innerhalb Chinas. Dazu gehört die Umsetzung von „local for local“-Strategien, bei denen Produktions- und Beschaffungskapazitäten im Inland aufgebaut werden. Dies verringert die Abhängigkeit von Importen und trägt dazu bei, die Auswirkungen möglicher Zölle oder Handelsbeschränkungen abzumildern. Neben der Produktion sollten die Unternehmen China auch als dynamisches Innovationszentrum zu ihrem Vorteil nutzen. Das beinhaltet die aktive Nutzung des großen Pools an lokalen Talenten, insbesondere derjenigen, die über Erfahrungen in multinationalen Unternehmen verfügen, sowie die Etablierung einer signifikanten F&E-Präsenz. So gründete Roche bereits 2004 sein erstes Forschungs- und Entwicklungszentrum in China, gefolgt von einem Innovationszentrum in Shanghai im Jahr 2016.7 Bayer hat eine enge Zusammenarbeit mit führenden chinesischen Universitäten wie Tsinghua etabliert. Das Ergebnis waren zahlreiche gemeinsame Forschungsprojekte und die Einrichtung eines Life-Science-Inkubators in Shanghai, der sich auf moderne Technologien wie Zell- und Gentherapien konzentriert.8 Solche Investitionen ermöglichen es internationalen Unternehmen, auf lokales Know-how zurückzugreifen und ihre Forschungspipelines zu beschleunigen.
Die Durchführung von klinischen Studien in China ist ebenfalls unerlässlich geworden. Die schiere Menge an infrage kommenden Patienten, die Harmonisierung von Standards und Vorschriften und die Verbesserung der Infrastruktur ermöglichen eine schnellere und effizientere Patientenrekrutierung und Studiendurchführung, wodurch sich die Gesamtdauer der Arzneimittelentwicklung verkürzt. Deshalb ist China heute der weltweit führende Studienstandort: 39 Prozent aller Studien, die im Jahr 2023 weltweit begonnen wurden, haben einen oder mehrere Standorte in China, 2019 waren es noch 25 Prozent.9 Viele Unternehmen bringen ihre Medikamente sogar zuerst in China auf den Markt, um von den jüngsten regulatorischen Reformen und schnelleren Zulassungswegen zu profitieren. Allerdings bleibt es für ausländische Unternehmen eine Herausforderung, in der komplexen Marktzugangslandschaft Fuß zu fassen – im Jahr 2024 wurden nur 26 importierte Arzneimittel (29 Prozent aller 91 neu aufgenommenen Medikamente) in die NRDL aufgenommen. Die Integration in die chinesische Wirtschaft ist entscheidend für einen breiten Patientenzugang und den wirtschaftlichen Erfolg. Partnerschaften und Joint Ventures mit lokalen chinesischen Akteuren, die über die Expertise und die nötigen Beziehungen verfügen, um den NRDL-Prozess effektiv zu steuern, sind daher unabdingbar.